Elena Und Luca sind normal intelligente Primarschüler. Aber beide verbindet ein
Problem: Mit Buchstaben stehen sie auf Kriegsfuss. Wenn die Diagnose
Lese-Rechtschreib-Schwäche steht, kann geholfen werden.
Nächste
Woche muss Luca ein Referat über Irland halten, genauer gesagt über Nordirland. Er hat ein großes Plakat gebastelt, die wichtigsten Orte
eingezeichnet und aus dem Internet ein paar Fotos beschafft. Jetzt steht er in
seinem Kinderzimmer, schiebt die Brille zurecht. "Nordirland ist ein
Teil Irlands. . ." Auf dem Boden sitzt Lucas Mutter zwischen
zahlreichen Stofftieren, darunter "Frau Sutter", ein gefährlich
dreinblickender grüner Drache. "So hieß Lucas erste Klassenlehrerin"..
Frau Sutter war es, die in der zweiten Klasse bemerkte, dass Luca immer noch
mit den Fingern zählte, mit Lesen und Schreiben nicht weiterkam. "Weil er
immer schon etwas verträumt war, diagnostizierte sie eine
Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADHS) und begann ihn zu therapieren". Die Eltern vertrauten ihr, glaubten mit einer Montessori-Schule
für ihr Kind, das in den frühen Lebensjahren viel Zeit im Krankenhaus verbracht
hatte, den richtigen Weg gefunden zu haben: "Heute wissen wir, dass diese
freie Arbeit gerade das Falsche war. Luca braucht Regeln."
Die
Eltern warteten ab. Eine neue Lehrerin kauften Stäbe im Baumarkt, sägte sie in
Stückchen, um Luca ein Verständnis für den Zahlenraum zu vermitteln, sie
übte Diktate bis zum Erbrechen: "Ich war beinahe verzweifelt, weil ich
nicht verstehen konnte, warum mein Kind das nicht begreift. Ein Wort, das er an
einem Tag richtig schreibt, ist am anderen nicht wieder zu erkennen."
Inzwischen weiß sie, dass Luca "mit zwei Teilleistungsstörungen
gesegnet" ist. Er hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche.
Woher
das kommt? Ein bildungsfernes Elternhaus, oft als Grund genannt, fällt bei
Luca aus: Sein Vater hat studiert, die abendliche Vorlese-Geschichte ist
ein Familien-Ritual. Die Mutter ist Spezialistin für Informationstechnik. Ihrem
grundlegenden Misstrauen ist es zu verdanken, dass Luca heute mit seinen
Defiziten zurechtkommt. "ADHS passte nicht zu meinem Kind. Da war ich mir
sicher",. Sie ließ Luca in einem Sozialpädiatrischen
Zentrum (SPZ) testen: "Das Ergebnis war erschütternd. Er konnte nichts,
was in seiner Altersstufe normal gewesen wäre." Der IQ-Test des damals
Achtjährigen fiel dagegen normal aus. "Gut, dass wir es abgelehnt hatten,
ihn die ersten Klasse wiederholen zu lassen".
Elenas Eltern standen kurz davor, ihre Tochter auf eine "Ehrenrunde" zu
schicken. Am Ende der ersten Klasse konnte sie einfachste Worte nicht schreiben,
"g" und "k", "d" und "t"
auseinanderzuhalten, daran war nicht zu denken. "Wir dachten, Elena
braucht eben etwas länger", sagt Ihr Vater : "Bis Petra
vor mir stand."
Petraa
ist nur zwei Jahre älter als Elena und geht mit ihr in die Mittagsbetreuung:
"Eines Nachmittags stand sie beim Abholen da mit Elena an der Hand. Dann
verkündete sie mir: Elena hat LRS. Du musst mit ihr zum SPZ. Ich war völlig
perplex. Aber als ich nachlas, war mir klar: Es passt alles." Die
verwechselten Buchstaben, das ganze Üben zuhause, das nichts besser machte,
sondern nur Mutter und Tochter den letzten Nerv raubte, zu Stress und Frust
führte. "Elena hat drei Minuten gebraucht, um einen Satz zu lesen. Dann
hat meine Frau drei Seiten vorgelesen, damit es einigermaßen vorwärts ging. Und
das jeden Tag. Elena bockte, meine Frau verlor irgendwann die Geduld."
Zwei
Monate dauerte es, bis zum Termin beim SPZ bekamen. Diagnose:
Ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Schwäche. Warum Petra wusste, was alle anderen
nicht gesehen hatten? Sie ist ebenfalls betroffen. Jetzt besuchen die Mädchen
zusammen den Förderkurs in ihrer Grundschule. "Elena geht zusätzlich in
ein privates Institut, das eng mit den Lehrern zusammenarbeitet. Seitdem ist
die Situation zuhause deutlich entspannter", erzählt Ihr Vater..
Auch Luca geht in ein privates Institut, eine Zusammenarbeit mit den Lehrern dort
lehnte Frau Sutter aber ab. Trotzdem machte Luca Fortschritte, die Eltern
dachten alles laufe gut. Bis die Eltern eines Tages in die Schule gerufen
wurden. Luca war aus der Klasse gerannt, hatte sich auf den Boden geworfen
und sich selbst geschlagen. Autoaggressive Störung nennt sich das im
Fachjargon. Einmal mehr hatte Frau Sutter den Jungen gezwungen, vor der
ganzen Klasse zu lesen. Das war der Auslöser für seine Verzweiflung gewesen.
"Wir waren total geschockt. Da war uns klar: Luca muss da weg".
Mitte
der dritten Klasse wechselte Luca in eine ganz normale Grundschule. Im
Rechnen hatte er aufgeholt, bis die Textaufgaben kamen. "Dass sich die LRS
auf alle Fächer auswirkt, das hatten wir nicht bedacht", sagt die Mutter.
Eine Stunde pro Woche ist er im Institut, dazu kommen jeweils etwa drei Stunden
Hausarbeit.
Er
macht Fortschritte, Probleme wird Luca aber immer haben. denn "Wie sollen die Lehrer den Kindern
länger Zeit geben? Wenn die Stunde vorbei ist, ist sie vorbei. Der Lehrer muss
in die nächste Klasse oder mit dem nächsten Fach beginnen. In unserem
Schulsystem kann das nicht funktionieren."
Gerade
hat Luca wieder eine Zwei im Diktat bekommen. "Er war traurig,
natürlich. Aber wenn die Leistung nicht bewertet worden wäre, hätten auch alle
gewusst, dass er schlecht war. Das macht keinen Unterschied." Viel
wichtiger war fürLuca das Smiley, das die Lehrerin ihm hingemalt hat, als
Zeichen des Lobes. Luca hat ein Ziel: Er will 2012 die Sekundarschule schaffen. Im Rechnen steht Yannick auf einer 3, in Deutsch könnte es sogar noch
besser werden, weil er die Diktate durch gute Grammatikleistungen und Mitarbeit
ausgleicht. Deshalb übt er jetzt auch sein Referat - "Frau Sutter"
hört zu. Zu sagen hat sie nichts mehr.